Heartstopper & Co. — Queere Fernsehserien und Community

von Vincent, 4.5.2022

Jedes Mal, wenn eine neue queere Serie herauskommt, kann ich mich schon darauf einstellen, wie meine For You Page auf TikTok und mein Twitter Feed in den nächsten Wochen aussehen wird: Ausschnitte der Serie, Videos von Fans, die ihre Begeisterung und Gedanken teilen und natürlich Interviews mit den Schauspieler*innen. Egal ob es die neue Staffel von Élite ist, die schwedische Netflix-Serie Young Royals, Love, Victor oder auch Bücher wie Das Lied des Achill: um die Serien und Charaktere bilden sich über Nacht Millionen-Communities online. Viele teilen, dass sie die Serie jetzt schon zum fünften Mal in den letzten zwei Tagen gesehen haben, dass man genau diese Repräsentation jetzt brauche oder dass sie bedauern, diese Repräsentation als Jugendliche nicht gehabt zu haben.

Die britische Serie Heartstopper, basierend auf den gleichnamigen Web Comics von Alice Oseman, die auf Netflix am 22. April 2022 veröffentlicht wurde, reiht sich nahtlos in diese Tradition ein. Die Anzahl der Follower*innen vom achtzehnjährigen Kit Connor, der eine der beiden Hauptrollen in der Serie spielt, wuchs innerhalb von einer Woche von knapp 200.000 auf mittlerweile über 2 Millionen. Videos mit dem Hashtag #heartstopper haben auf TikTok in derselben Zeit schon mehr als 2,4 Milliarden Aufrufe erreicht.

Heartstopper

Heartstopper folgt dem fünfzehnjährigen Charlie Spring, gespielt von Joe Locke, der in die zehnte Klasse einer Jungenschule in England geht. Im vorherigen Schuljahr war er zunächst geoutet und dann aufgrund seiner sexuellen Orientierung gemobbt worden. In seinem Matheunterricht lernt er Nick Nelson, gespielt von Kit Connor, kennen. Nick ist ein Jahr älter als Charlie und als “König des Rugby” in der Schule bekannt. Die beiden freunden sich an und Nick lädt Charlie ein, dem Rugbyteam als Auswechselspieler beizutreten. Dort kommen sich die beiden näher, als Nick Charlie gegen blöde Kommentare von den anderen Rugbyspielern verteidigt. Neben der Freundschaft von Nick und Charlie, die sich über die acht Episoden in mehr entwickelt, folgt die Serie auch Charlies anderen Freund*innen: Isaac, ein stiller Junge, der gerne Bücher liest; Tao, ein großer Filmfan und Charlies beschützender Freund; und Elle, die seit ihrer Transition auf die benachbarte Mädchenschule geht und dort noch neue Freundinnen sucht.

Neben den schönen Seiten einer inklusiven Freund*innengruppe, unterstützenden Familienmitgliedern und (endlich!) toller Repräsentation von Bisexualität, zeigt die Serie auch die weniger schönen, aber nicht weniger echten Seiten queerer Identität in der Schule: Kommentare hinter Charlies Rücken über seine vermeintliche Unsportlichkeit als schwuler Junge und homophobe Bemerkungen gegenüber dem lesbischen Paar in der Mädchenschule, die wahlweise von ihren Klassenkameradinnen als “widerlich” und “krank” oder von ihren Lehrkräften als “gute Freundinnen” bezeichnet werden. Nichtsdestotrotz wird queere Identität in einem außergewöhnlich positiven Licht dargestellt–eine willkommene Abwechslung zu den vielen queeren Geschichten mit tragischem Ende. Nennenswert ist auch, dass die Charaktere überwiegend von tatsächlichen Teenager*innen mit diversen Hintergründen gespielt werden, was die Realität natürlich viel besser abbildet als diejenigen Filme und Serien, in denen dreißigjährige weiße Schauspieler*innen Jugendliche von heute darstellen sollen.

Netflix und andere Streamingdienste haben in den letzten Jahren realisiert, dass Serien wie Heartstopper und Young Royals extrem erfolgreich sind und eine junge, begeisterungsfähige Zuschauer*innenschaft erreichen. Queere Menschen und Geschichten sind mittlerweile zu einem lukrativen Markt in der Unterhaltungsbranche geworden, sowohl in der Literatur als auch in der Film- und Fernsehbranche. Bemerkenswert ist jedoch, dass Geschichten über queere Jungen, die noch in der Schule sind und ihre Identität entdecken, mit Abstand am erfolgreichsten sind. Serien wie Feel Good, die sich nicht um queere junge Männer drehen, sind bei weitem nicht so erfolgreich und versammeln nicht so große Communities hinter sich wie Serien wie Heartstopper oder Young Royals.

Repräsentation ist selbstverständlich unglaublich wichtig und gut; die Rezeption von der Serie, die bei manchen anscheinend ihr Leben übernommen hat, bestätigt dieses allemal und unterstreicht noch einmal, wie sehr Repräsentation queerer Jugendlicher, die sich echt und nachempfindbar anfühlt, bisher in den Medien fehlte. Langfristig tragen diese Serien hoffentlich zu einer weiteren Normalisierung queerer Jugendlicher bei. Kurzfristig kann es jedoch insbesondere bei queeren jungen Erwachsenen auch Melancholie oder Frust auslösen: weil man sich solche Repräsentation in der eigenen Schulzeit gewünscht hätte, man gerne selbst eine queere Beziehung als Schüler*in gehabt hätte oder man den positiven Ton der Serie als nicht der eigenen Realität entsprechend sieht. Auch für queere Schüler*innen heute können diese Serien paradoxerweise Hoffnung erwecken, die dann durch die eigene Wirklichkeit wieder zerschmettert wird. Diese Gefühle haben jedenfalls zahlreiche Benutzer*innen auf Twitter und TikTok ausgedrückt.

Nichtsdestotrotz möchte ich euch ermutigen, Heartstopper zu schauen und ein Teil der Community zu werden! Die Serie ist gleichzeitig ergreifend, urkomisch und für eine große Zuschauer*innenschaft ansprechend. Heartstopper ist auch komplett familienfreundlich, kann also auch mit jüngeren Kindern oder den eigenen Eltern geguckt werden. Wenn auch noch nicht bestätigt, ist eine zweite Staffel sehr wahrscheinlich, voraussichtlich allerdings erst in ein oder zwei Jahren. Wenn ihr euch nicht bis dahin gedulden wollt, könnt ihr natürlich auch die Graphic Novels weiterlesen oder den originalen Web Comic anschauen, der online frei verfügbar ist.