Vor einigen Wochen habe ich eine Ausstellung zweier französischer Künstlerinnen besucht. Die beiden Fotografinnen Elsa Para und Johanna Benaïnous inszenieren sich gegenseitig in den verschiedensten Rollen: Teenager:innen, Mädchen, Jungen, als Freund:innen, Kolleg:innen oder auch als Paar. Geschlechterrollen, Altersgrenzen, soziokulturelle Stereotype verfließen dabei. Diese Ausstellung begleitet mich bis heute gedanklich. Vor meinem inneren Auge sehe ich immer wieder dieselben beiden Gesichter zu anderen Personen werden. Der Wandel, Wechsel und schlussendlich die Konstruktion der Identitäten hat mich mit der Frage konfrontiert: Wer bin ich eigentlich? Was ist meine Identität?
Dabei habe ich mir über die unterschiedlichsten Dinge Gedanken gemacht. Doch besonders eine Frage ließ mich nicht los: Warum bezeichne ich mich als Frau? Wieso fühle ich mich damit wohl? Damit will ich nicht sagen, dass ich an meiner Geschlechtsidentität gezweifelt habe. Nein, mir geht es darum, zu verstehen, warum ich mich als Frau sehe. Was bedeutet es für mich, eine Frau zu sein?
An dieser Stelle möchte ich deutlich sagen, dass es mir hierbei um eine individuelle Erforschung meiner eigenen Gefühle und Gedanken zu meiner Geschlechtsidentität geht. Keinesfalls möchte ich Maßstäbe dafür setzen, wie es ist, eine Frau zu sein und welche Kriterien man dafür erfüllen muss, denn solche Kriterien existieren nicht. Jeder einzelnen Person steht es zu, die eigene Geschlechtsidentität zu erkunden und zu benennen. Im Folgenden werde ich auch viel über meine Wahrnehmung meines Körper im Kontext zu meiner Geschlechtsidentität sprechen. Natürlich bedeutet dies nicht, dass der biologische Körper mit der Geschlechtsidentität übereinstimmen muss. In meinen eigenen Überlegungen, die auf meinen Erfahrungen als cis Frau beruhen, spielt dies für mich lediglich eine Rolle.
Im Prozess, meine empfundene Weiblichkeit besser zu verstehen, drehten sich meine Gedanken oft um meine Vergangenheit und darum, wie ich meine Identität als Frau über die Jahre wahrnahm. Ich glaube, dass ich bis zum Alter von 12 oder 13 Jahren eine unschuldige Beziehung zu meiner Geschlechtsidentität hatte. Diese Beziehung bestand hauptsächlich daraus, dass ich mir keine Gedanken darüber machte. Ich wusste, ich war ein Mädchen, alle bezeichneten mich als solches und behandelten mich auch dementsprechend. Trotzdem hatte ich das Glück, in einer Familie aufwachsen zu können, die mir die Freiheit ließ, auch nicht typisch „mädchenhaften“ Leidenschaften nachzugehen. Ich liebte die Wilden Kerle, trug stolz meinen Schalke-04-Fanschal und focht erbitterte Holzschwertkämpfe aus. Auf der anderen Seite war ich besessen von Geschichten über Elfen und dem Märchen von Aschenputtel, das ich sogar mehrfach als Theaterstück mit meinen verschiedenen Puppen als Hauptdarsteller:innen inszenierte. Mit einer unschuldigen Beziehung meine ich somit, dass ich zwar mit dem Wissen über meine Geschlechtsidentität aufgewachsen bin, diese mich aber nicht daran hinderte, meine eigenen Vorlieben und Abneigungen zu erforschen. Sie war problemlos und deshalb auch nicht wichtig für mich.
Als ich 14 Jahre alt wurde, änderte sich dies. Wie es der Lauf der Natur wollte, begann sich der eigene Körper zu verändern und damit änderte sich auch der Blick der Menschen um mich herum auf mich. Ich erinnere mich bis jetzt an das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, nicht als Kind, sondern als weibliche Person angesehen zu werden. Mein Körper, zu dem ich bisher eine von unschuldigen Erlebnissen geprägte Beziehung hatte, den ich mochte, weil er gute Räder schlagen konnte, dessen Grenzen ich beim Klettern und Rennen ertestet hatte, wurde zu etwas Sexualisiertem. Den ersten Blick solcher Art spüre ich bis jetzt noch auf meiner Haut, weil mich sofortiges Unwohlsein überkam. Ich schämte mich auf einmal für meinen Körper. Aus jetziger Perspektive ist mir klar, dass mich dieses Ereignis in dem Maß verunsicherte, da ich mit etwas konfrontiert wurde, der Sexualität, das mir noch fern war und das ich nicht verstand. Zudem hatte ich das Gefühl, dass mir mein Körper nicht mehr ganz gehört. Eine andere Person konnte ihn ansehen und dabei denken, was sie wollte. Mein Körper wurde beschlagnahmt.
Mit der Zeit lernte ich diese Blicke zu lesen, die Kommentare zu meinem Körper zu analysieren. Ich wusste welche Bewegungen, Kleidungen, Gesten die Blicke hervorriefen. In gewisser Weise verstand ich, was von Weiblichkeit erwartet wurde. Wie eine „attraktive Frau“ aussehen soll, sein soll. Egal wie unwohl ich mich in solchen Situationen auch fühlte, ich begann mich bewusst so zu verhalten, denn gleichzeitig lernte ich, dass männliche Aufmerksamkeit das ist, wonach eine Frau streben sollte. Es ist eine Bestätigung dafür, dass du etwas richtig machst, dass du eine begehrenswerte Frau bist. Und ist es nicht das Ziel des Lebens einer Frau, für einen Mann attraktiv zu sein? Dadurch bedeutet für mich eine Frau zu sein, eine fremdbestimme Weiblichkeit zu performen.
Performen ist das perfekte Stichwort, um einen kurzen Abstecher zu Judith Butlers Werk „Gender Trouble“ (1990) zu wagen. Darin argumentiert Butler, dass die Geschlechtsidentität, das Gender, keine biologische vorbestimmte Eigenschaft oder eine angeborene Identität ist. Stattdessen werden Geschlechtsidentitäten „performt“ und durch soziale Normen bestätigt. Mit dem Wort „performen“ meint Butler keine Performance wie zum Beispiel die eines:r Schauspieler:in oder Musiker:in. Butler definiert „performative“ Sprechakte oder Handlungen als solche, deren Ergebnis mit dem Inhalt des Aktes übereinstimmt. Dadurch dass sie gesagt werden verändern Sie somit den Zustand der existierenden Welt. Das Paradebeispiel hierfür ist der Satz: „Ich erkläre sie zu Mann und Frau“, da durch die Äußerung zum einen beschrieben wird, was der:die Sprecher:in tut – zwei Personen zu Mann und Frau erklären – und zum anderen durch den Satz die Ehe geschlossen wird. Dementsprechend bedeutet dies, dass einzelne Personen nicht mit einer Geschlechtsidentität geboren werden, sondern aufgrund einer Sozialisierung im Sinne eines Genders und der damit assoziierten Eigenschaften handeln. Dadurch werden die Vorstellungen der Geschlechter immer wieder bestätigt und manifestiert. Personen, die nicht ihrem designierten Gender entsprechend handeln, werden marginalisiert und diskriminiert, sodass das System der binären Geschlechter erhalten bleibt. Zusammenfassen kann man Butlers Theorie mit ihrem Zitat: “Gender is not something that one is, it is something one does”.
Wenn ich ehrlich bin, weiß ich selber nicht genau, was ich mit Butlers Theorie anfangen soll. Auch wenn diese zutrifft und es kein angeborenes Gefühl des “Frausein” gibt, sondern dieses erst durch einen individuellen und gesellschaftlichen Prozeß entsteht, empfinde ich es dennoch als Gegebenheit und möchte auch anderen das Erleben der inneren Gewissheit, eine bestimmte Geschlechtsidentität zu haben, nicht absprechen. Dennoch ist Butlers Ansatz, zumindest für mich, ein hilfreicher Gedankenanstoss, um mich zu fragen, warum wir diese Geschlechtsidentität haben, wie sie zustande kommt. Wie wird unsere Geschlechtsidentität beeinflusst und auf was begründet sie sich? Ich für meinen Teil versuche diesen Fragen für mich persönlich nachgehen.
Nach diesem kurzen Ausflug zu Butlers Theorie möchte ich zurückkommen zu meinem Rückblick in die Vergangenheit. Das Spiel mit der Weiblichkeit aus einer männlich sexualisierten Perspektive ging für mich mit einem Wechselbad der Gefühle einher. Zum einen ist da die Befriedigung zu gefallen, dann die Macht, die man empfindet, weil man ein Gegenüber so leicht steuern und kontrollieren kann. Gleichzeitig habe ich in konträrer Weise eine grenzenlose Machtlosigkeit empfunden. Für mich bedeutete es auch sich zu unterwerfen. Den Erwartungen, Ansprüchen und Annahmen, die andere mir gegenüber aufgrund meines Geschlechtes haben, nachzugeben. Ich selber sah keine Möglichkeit, jenes fremdbestimmte Bild von mir zu beeinflussen. Daraus entwickelten sich widersprüchliche Wünsche. Der Wunsch, endlich den gestellten Ansprüchen zu genügen, fraulich, attraktiv genug zu sein. Das Gefühl von Mangelhaftigkeit hinter mir zu lassen. Gleichzeitig wollte ich endlich wieder die Herrin meines eigenen Körpers, der Wahrnehmung meiner Geschlechtsidentität sein, selbst bestimmen, wie ich darüber denke. All dies führte dazu, dass ich mir meine Haare abgeschnitten habe. Lange Haare waren für mich immer der Inbegriff von Weiblichkeit. Sie standen für das, das was mich für Männer attraktiv macht. Sinnbildlich wollte ich genau den Gedankengang, für jemand anderen eine Frau sein zu müssen, abschneiden, mich von der Last befreien.
Tatsächlich hat dies in irgendeiner Weise für mich funktioniert. Zwar wünsche ich mir auch jetzt noch, manchmal etwas mehr so oder so zu sein, um männlich validiert „attraktiv“ zu sein, aber mir ist es jetzt möglich, meine Identität als Frau unabhängig davon zu erkunden. Die erste Erkenntnis war dementsprechend natürlich, dass kein körperliches Attribut einen zur Frau macht. Ein stück weit fand ich zurück zu meiner unbelasteten Beziehung zu meinem Körper, denn egal was für einen Körper man hat oder eben lange oder kurze Haare, das innere Gefühl, eine Frau zu sein, ist vollkommen unberührt davon. Damit will ich nicht bestreiten, dass die Fremd- und Eigenwahrnehmung meines Körpers mein eigenes Bild von Weiblichkeit beeinflusst, aber dies ist vollkommen unabhängig von meinem tatsächlichen Körper. Auch jede weitere Eigenschaft, die mir eingefallen ist, die meine Geschlechtsidentität bestimmen könnte, lässt sich ebenso schnell widerlegen. Es hat nichts damit zu tun, einen bestimmten Kleidungsstil zu haben, Kinder kriegen zu können oder eine Vorliebe für Rosa und Glitzer zu haben. Nein, mein Gedankengang hat mich zu zwei Ergebnissen geführt.
Warum bezeichne ich mich denn dann als Frau?
Erstens, ich sehe mich als solche. Ich selbst habe eine innere für mich unergründbare Gewissheit, eine Frau zu sein. Dieses Empfinden ist von äußeren Gegebenheiten vollkommen unabhängig und etwas, das man nur für sich selbst erspüren kann. Vielleicht mag dieses Gefühl nach Butler ein Ergebnis von innergesellschaftlichen Prozessen sein, dies ändert aber nichts an meinem für mich real existierenden Empfinden.
Zweitens, ich habe für mich persönlich entdeckt, dass ich mich der Gruppe der Frauen zugehörig fühle, weil wir in irgendeiner Weise eine Erfahrung teilen. Natürlich erlebt jede Frau andere Erfahrungen. Durch meine priveligierte Position als weiße Frau erlebe ich eine andere Alltagsrealitäten als Schwarze Frauen und als cis Frau habe ich eine andere Geschichte mit meiner Geschlechtsidentität als eine trans* Frau erlebt. Zweifelsohne kann ich nur von meinem begrenzten Standpunkt aus sprechen, aber ich hatte stets das Gefühl, mich mit Frauen auf einer Eben verbunden zu fühlen, die keine Erklärung braucht. Mir wurde dies vor Augen geführt, als ich vor Kurzem meine erste Erfahrung von sexueller Belästigung gemacht habe. Ohne viele Worte, um meine Gefühle zu beschreiben, haben mich andere Frauen verstanden und standen mir zur Seite. Mit einer geteilten Erfahrung meine ich somit, dass ich mich zu einem gewissen Grad hin in den Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen von anderen Frauen wiederfinden kann. Zu einem unbestimmbar großen Bruchteil teilen wir dieselbe Sicht auf die Welt.
Zum Abschluss möchte ich sagen, dass es für mich wichtig war und ist, meine Geschlechtsidentität zu erkunden, um mich besser zu verstehen. Allerdings möchte ich damit nicht Geschlechternormen zementieren. Um gemeinsam patriarchale Strukturen aufzulösen, sollte man sich nicht von angeblichen Geschlechtergrenzen aufhalten lassen. Hier hilft mir Butlers Theorie, um mich zu ermahnen, dass dadurch, dass Geschlechter reine aber mächtige Konstruktionen sind, wir nach einer Welt streben sollten, in der jemand als Frau, genderfluid, nichtbinär oder auch als Mann als Person lebt, die sich selbt in ihrer Einzigartigkeit auslebt, ohne sich in normengebundene Kategorien einordnen zu müssen.
Enden würde ich gerne mit der Liedzeile “Man! I feel like a woman” von Shania Twain - was auch immer das bedeutet.