Gedanken zur weiblichen Bisexualität

von Lin, 13.7.2023

Darf ich mich lesbisch nennen, obwohl ich mich auch von Männern angezogen fühle und die Mehrheit meiner sexuellen Erfahrungen mit Männern war? Warum möchte ich mich überhaupt lesbisch nennen und nicht bisexuell oder einfach queer? Diese Fragen sind für mich ein immer wiederkehrendes Gedankenkarussell. Im Grunde weiß ich, dass mir niemand verbieten kann, ein bestimmtes Label für mich zu beanspruchen, weswegen die Frage nach dem „dürfen“ natürlich quatsch ist. Trotzdem ist da immer dieses latente Gefühl, nicht lesbisch/bisexuell/queer genug zu sein, um mich so nennen zu dürfen. 

Ich weiß, dass dies ein symptomatisches Denkmuster von vor allem weiblich sozialisierten Personen ist, die sexuelle und/oder romantische Anziehung zu mehreren Geschlechtern empfinden. Die Angst, Raum einzunehmen, der mir (angeblich) nicht zusteht - wodurch ich am Ende keinen Raum mehr habe, den ich in Anspruch nehmen könnte. Natürlich weiß ich auch, dass ich meine Queerness niemandem beweisen muss. Es gibt kein Eintrittsticket in die queere Community. Trotzdem ist es immer wieder erschreckend, wie tief dieses Gefühl in mir verankert ist, obwohl ich mittlerweile seit drei Jahren offen und zweifelsfrei queer bin. 

Für dieses Gefühl gibt es die beiden wunderbaren Begriffe Bi-Erasure und Bi-Invisiblity. Ersterer wurde von Prof. Kenji Yoshino geprägt und bezeichnet die Unsichtbarmachung von Bisexualität, z.B. durch mangelnde Repräsentation, Gemeinschaft, Sprache und Anerkennung, auch durch schwule und lesbische Diskurse. Bisexuelle Menschen stehen unter dem ständigen Druck, ihre Identität entweder als homosexuell oder heterosexuell zu definieren. Bisexualität wird als Zwischenstadium dargestellt, delegitimiert und infrage gestellt. Bi-Invisibility beschreibt im Wesentlichen den gleichen Zusammenhang, jedoch betont er meiner Ansicht nach den Umstand besonders, dass es schwieriger ist, für bisexuelle Menschen sichtbar zu sein, da bisexuelle Personen immer entweder als hetero- oder homosexuell gelesen werden und es kaum gesellschaftliche Symboliken und Praktiken gibt, die mit Bisexualität verbunden werden. Das macht es für mich um ein Vielfaches attraktiver, das Label lesbisch für mich zu beanspruchen; damit kann ich Rekurs nehmen auf lesbische feministische Kämpfe und Wissenstatbestände, wie z.B. das Combahee River Collective, den Lesbenring, aber auch auf kulturelle Institutionen wie Lesbenbars, -sportvereine oder -mode. 

Bisexual History Pride

Labels sind nützlich, um meine Erfahrungen in Worte fassen zu können, und damit andere mich verstehen können. Sie werden zum Problem, wenn sie so rigide werden, dass meine Erfahrungen nicht mehr in ihre Grenzen passen. Wenn es Irritationen auslöst, wenn ich mich lesbisch nenne, aber gerne mit Männern flirte. Wenn ich mich bisexuell nenne, aber mir dann unterstellt wird, ich sei einfach noch nicht gefestigt in meiner homosexuellen oder heterosexuellen Orientierung. Eigentlich ist Bisexualität ein perfekter Begriff, weil er eine Ambiguität umfasst, eine Vielzahl, eine Mehrschichtigkeit von Erfahrungshorizonten: ich kann mich bi nennen, wenn ich romantische Gefühle für alle Geschlechter, aber sexuelle nur für eines habe, wenn ich nur bisexuelle, aber keine romantischen Gefühle habe. Bisexualität ist eigentlich der Inbegriff des Verständnisses von Geschlecht und Sexualität als wandelbar und fluide. 

Schwierig bleibt es nur, wenn andere einem diese Wandelbarkeit nicht zugestehen und einen Begriff, den ich einmal für mich verwendet habe, als unabänderlich verstehen (was er für manche natürlich ist, aber wie lange habe ich mich bitte als heterosexuell bezeichnet?). Was mir geholfen hat, mich weniger um die Frage lesbisch oder bisexuell zu drehen, waren die Worte einer sehr guten (hetero!) Freundin, die ich hier gerne teilen möchte. Egal welche Gefühle und Anziehungen du gerade verspürst, sie sind da, und nur weil es kein passendes Wort dafür gibt oder du andere damit irritierst, solltest du diese Gefühle nicht beschneiden, damit sie in irgendwelche Kategorien passen, sondern einfach spüren und leben. Im Grunde ist es egal, mit welchem Begriff ich mich kontextuell gerade identifiziere, solange er sich richtig für mich anfühlt. Und wenn Leute dann verwirrt sind, dass ich manchmal sage "ich bin bi", manchmal "ich bin lesbisch", manchmal "ich bin queer", dann können sie genau das nachempfinden, was ich spüre: Sexualität ist wandelbar und manchmal auch widersprüchlich.

Lin, 20 Jahre