Verwirrte Gedanken einer Frau über Adrienne Richs Theorie der Compulsory Heterosexuality

von Rahel, 4.8.2021

Disclaimer: Im folgenden Text werde ich von Männern und Frauen als binäre Gegensätze sprechen. Damit will ich nicht die Vielfältigkeit von Geschlechtern ausschließen, sondern beziehe mich auf die Position der Unterdrücker und der Unterdrückten innerhalb einer manifestierten Machtstruktur.

Mit vierzehn besuchte ich meine erste richtige „Party“. Wie jede Party damals endete auch diese mit der obligatorischen Runde „Wahrheit oder Pflicht“. Als die Flasche auf mich zeigte und mir die Frage gestellt wurde, ob ich jemanden der Mitspielenden, den damaligen Worten entsprechend, „süß“ finden würde, deutete ich etwas schüchtern auf das Mädchen mir gegenüber. „Ach das ist doch langweilig! Du musst einen der Jungen wählen!“, stöhnte genervt meine Nebensitzerin. Verunsichert gestand ich danach meine von allen erwartete Zuneigung für einen der Jungen.

Jahre später befand ich mich in einer ähnlichen Situation. Zusammen mit ein paar Freundinnen saß ich nach einem lustigen Abend auf der Terrasse und hörte verwirrt zu, wie sie gemeinsam die unbestreitbare Attraktivität einer unserer Bekannten diskutierten. Etwas abwesend hing ich meinen eigenen Gedanken nach, bis ich gedankenverloren sagte: „Irgendwie ziemlich knochig, also der männliche Körper. So richtig attraktiv fand ich noch keinen.“ Mir blickten ratlose Gesichter entgegen.

Diese beiden Erlebnisse haben mir offenbart, dass es tatsächlich Mädchen und Frauen gibt, die erstens ausschließlich romantische Gefühle für das andere Geschlecht empfinden und sich auch körperlich zu Männern und Jungen angezogen fühlen. Manche mag das überraschen, aber für mich war schon immer klar, dass es doch unmöglich sein muss, ausschließlich Jungen anziehend zu finden. Trotzdem habe ich lange damit gezögert, mich bewusst als nicht hetero einzuordnen. In meinen romantischen Fantasien sah ich einen Mann; wenn mich jemand nach meiner Zukunft fragte, sagte ich ohne Zögern, dass ich mir eine langfristige Beziehung mit einem Mann wünschte; ich schwärmte für Harry Styles und genoss es, die Aufmerksamkeit von Männern zu bekommen. Aufgrund all dessen dachte ich, dass es eine Lüge von mir wäre, mich als bisexuell zu bezeichnen.

Adrienne Rich, die US-amerikanische Dichterin, Dozentin, Feministin und Lesbe, würde mein altes Ich beim Hören dieser Gedanken kritisch ansehen und sagen: „Solange wir die Annahmen nicht kennen, die uns einschließen, können wir uns selbst nicht kennen.“[1] Oke, aber was sind diese Annahmen und was haben sie mit meiner Sexualität zu tun? In meinem imaginierten Gespräch mit Rich würde sie mir dann wissend ihren Essay „Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence“ reichen.  Nach der Lektüre des Essays kann ich nur sagen: Wie konnte ich je nicht an meinen Annahmen über mich zweifeln. Falls auch ihr eine Dosis Selbsthinterfragung ersehnt, empfehle ich weiterzulesen.

Richs These lässt sich bereits in ihrem Konzept der Compulsory Heterosexuality erahnen. Wörtlich übersetzt bedeutet dies „die aufgezwungene Heterosexualität“. Aber wer zwingt hier wem etwas auf und warum? Die Antwort hier ist schnell gefunden: die Männer den Frauen. Adrienne Rich und jede weitere klar denkende Person geht davon aus, dass wir in einer patriarchalen Welt leben. In der Kurzfassung versteht man unter dem Patriarchat ein Gesellschaftssystem, in dem eine männlich dominierte Machtstruktur vorherrscht.Durch ihre erhöhte Position gegenüber Frauen haben Männer Privilegien, die Frauen verwehrt bleiben. Im feministischn Diskurs wurde diese Definition durch die Annahme erweitert, dass das Patriarchat eine strukturelle Benachteiligung der Frau einschließt. Die Unterdrückung der Frau beruht dabei nicht zwangsläufig auf den Handlungen individueller Männer, sondern den geschlechtsspezifischen Vorurteilen der patriarchalischen Gesellschaft.

Adrienne Rich

Diese Unterdrückung der Frau durch den Mann charakterisiert Adrienne Rich in acht Bereichen. Zu diesen gehören wirtschaftliche, soziale und intellektuelle Aspekte, aber im Folgenden werde ich mich auf zwei Unterdrückungsmechanismen fokussieren. Zum einen die Verleugnung der weiblichen Sexualität, Beispiele hierfür sind die Verstümmelung der Vulva, der historische Keuschheitsgürtel, Slut-Shaming und die Degradierung von Masturbation als etwas Anrüchiges. Zum anderen zwingen Männer Frauen ihre „männliche“ Sexualität auf. Vergewaltigungen und alle Formen der sexuellen Belästigung dienen wohl als kräftigste Illustrationen dieses Phänomens.

Das Paradebeispiel für diese beiden Prozesse ist die moderne Mainstream-Pornographie. Falls du auch ein Mädchen bist, dann könnte es dir vielleicht auch unangenehm sein, über Pornos zu sprechen, oder – Gott bewahre! – einzugestehen, welche gesehen zu haben. Jungen hingegen können, ohne den gesellschaftlich schiefen Blick zu riskieren, frei über ihre Erfahrungen in dieser Domaine reden. Hier beginnt sie demnach schon, die Verleugnung der weiblichen Sexualität. Doch leider wird alles nur schlimmer, umso intensiver man sich mit diesem Tabuthema beschäftigt. Pornos zeichnen ein spezifisches und immer wiederkehrendes Bild der Frau. Sie ist nichts anderes als eine sexuelle Beute für den Mann und nimmt diese Rolle aktiv und willentlich ein. Demütigungen, Gewalt und die Entmenschlichung der Frau werden als alltäglicher Teil einer sexuellen Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau manifestiert. Fraglos tritt der Mann als dominierender, sexuell ungebremster Akteur in diesem Kontext auf, der die unterwürfige, objektivierte Frau in Besitz nimmt. Eine eigene Sexualität wird der Frau demnach abgesprochen, und gleichzeitig existiert sie nur, um seine Sexualität zu befriedigen.

Um dieses Konzept tiefgründiger verstehen zu können, hilft es, einen Blick auf die Theorie des Male Gaze zu werfen, welche erstmals im Kontext der Darstellung von Frauen in Filmen entstand, aber heutzutage auf alle Kunstbereiche übertragen wird. Dem Namen entsprechend beinhaltet sie die Annahme, dass Frauen in Filmen aus der Perspektive eines starrenden Mannes gezeigt werden. Ihre Persönlichkeit oder auch nur der Handlungsstrang sind dabei nicht von Belang. Frauen werden zu reinen Lustobjekten reduziert. Megan Fox im Film Transformers ist ein exzellentes Exempel dafür.

Megan Fox in Transformers

In dieser Aufnahme des Filmes geht es eigentlich darum, dass sie einen Motor repariert. Allerdings ist dieser nicht mal zu sehen. Stattdessen kann der Zuschauer eine den konventionellen Schönheitsstandards entsprechende Frau in einem Minirock und knappen Oberteil, die anscheinend an einem Auto rumschraubt, bewundern. Wenn das nicht der stereotypische feuchte Traum aller Pubertierender ist, weiß ich auch nicht weiter.

Nochmals ist daran zu erkennen, wie eine weibliche Person in einen männlichen, sexuell dominierten Kontext geschoben wird. Leider Die Darstellung von lesbischen Paaren unter dem dem Male Gaze setzt dem Ganzen die Krone auf. Dass cis-hetero Männer eine Schwäche für Lesben haben, ist kein Geheimnis, wenn man die Top-Suchanfragen auf Pornoseiten kennt. In Filmen ist dies aber auch spürbar. Im Gegensatz zu hetero Beziehungen werden lesbischen Beziehungen jegliche Emotionalität geraubt und zurück bleibt nur die sexuelle Komponente, die die Fantasie der Betrachter genau an der richtigen Stelle trifft. Für alle, die ein Beispiel dafür sehen wollen, empfehle ich, den Film Blue is the warmest Colour und im Vergleich dazu Portrait of a Lady on Fire zu schauen (Wenn du weniger Zeit haben solltest, reicht meiner Meinung nach ein Einblick in das Musikvideo Can't Remember to Forget You von Shakira und Rihanna). Rich zufolge ist diese Darstellung von lesbischen Paaren die ultimative Verleugnung der weiblichen Sexualität, da die Intimität zwischen Frauen verdreht wird, um dem Mann zu gefallen.

Nach diesem langen aber wichtigen Exkurs über die sexuelle Unterdrückung und Fremdsteuerung der Frau ist es Zeit, unsere Aufmerksamkeit wieder der Grundthese Richs zuzuwenden. Für sie führen die oben genannten acht Unterdrückungsmechanismen der Frau zu der uns leider bekannten benachteiligten Position der Frau in der Gesellschaft. Sozial, beruflich und ökonomisch befindet sie sich in einer schwachen Position. Wer wenn nicht der Mann könnte eine Frau daraus befreien? So und durch die Fremdsteuerung der weiblichen Sexualität entsteht die Annahme, dass die Ehe mit einem Mann und die sexuelle Beziehung mit ihm ein obligatorischer Teil des Lebens einer Frau sind. Von klein auf wird dieser Gedanke in den Kopf jedes Mädchens gehämmert. Jedes Märchen schließt damit, dass das Mädchen mit ihrem Prinzen verheiratet in den Sonnenuntergang reitet. Alle romantischen Komödien enden, wenn die Frau endlich von einem Mann erwählt worden ist. Der wichtigste Tag im Leben der Frau ist natürlich ihre Hochzeit, denn endlich darf sie zu ihrem Mann Ja sagen. Durch diese Romantisierung der immer gleichen Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau in allen Medien, verankert sich in den Köpfen und im Selbstverständnis jeder weiblichen Person der Gedanke, dass der einzige Sinn ihres Lebens die Ehe mit einem Mann ist. Wie auch die Geschichte unserer Lieblingsprotagonistinnen in romantischen Komödien endet auch die individuelle Geschichte jeder Frau, wenn sie ihren Mann gefunden hat. Mehr stellt das Leben nicht für sie bereit.

Die Heterosexualität von Frauen ist demnach aufgezwungen, da sie seit der Geburt als zwangsläufig für ein Mädchen angenommen wird. Sie ist deren ganzer Lebensentwurf. Zudem ist die Ehe auch für Frauen in ihrer gesellschaftlich unterlegenen Position eine Möglichkeit, Sicherheit und Stabilität zu erlangen. Die Liebe zu einer anderen Frau und ein gemeinschaftliches Leben mit ihr wurde gleichzeitig tabuisiert und als etwas rein Sexuelles und Beschämendes inszeniert. Laut Rich wurde die lesbische Existenz abgesehen von ihrer Pervertierung aus der Geschichte gelöscht.

Die Dynamik von erzwungener Heterosexualität als politische Institution wird ersichtlich, wenn einem vor Augen geführt wird, dass dadurch jedes Mädchen in die Welt geschickt wird mit einer alleinigen Aussicht, einen Mann zu finden. Die Frau internalisiert die männliche Perspektive auf sich selbst und wendet sich damit immer weiter von anderen Frauen ab. Was muss ich tun, um IHM zu gefallen? Wie schaffe ich es, mich gegen die anderen Frauen durchzusetzen? Jahrtausendelang wurden Frauen in einen Konkurrenzkampf gegeneinander gehetzte, der sie daran hinderte, ihre Kräfte zu vereinen und sich gegen die Unterdrücker aufzulehnen.    

In dem Punkt unterscheidet sich dieser Ansatz auch vom Konzept der Heteronormativität. Zwar beinhalten beide, dass Heterosexualität als vorgesehene Norm angesehen wird, aber Richs Theorie setzt dies in Kontext zu den vorherrschenden Machtstrukturen, welche die Ursache dafür ist. Zudem führt sie den Gedanken an, das diese dazu dient, um die patriarchalen Verhältnisse zu erhalten.

Ehrlich gesagt bereue ich gerade, meinen Text mit zwei persönlichen Anekdoten begonnen zu haben. Ich und wahrscheinlich auch du erwarten, dass ich nun im Schluss den dort begonnen Gedankengang wieder aufgreife und durch die Auseinandersetzung mit dem angeführten Thema zu einer befriedigenden Lösung komme. Tja, leider muss ich dich enttäuschen. So gern ich es tun würde, ich kann dir leider das „Alle ihre Fragen über sich selbst sind geklärt, und wenn sie nicht gestorben ist, dann lebt sie noch heute“-Ende nicht bieten. Glaube mir, eine Unzahl von Stunden habe ich damit verbracht, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Wahrscheinlich wird es erstmal bei jener Reihe von Gedanken und Fragen bleiben. Immer wieder erwische ich mich dabei, wie ich mich in einer für mich unnatürlichen Art verhalte, um die Aufmerksamkeit und Anerkennung von Männern zu erhalten. Gleichzeitig ist mir eben diese Aufmerksamkeit unangenehm und ich tendiere dazu, vor ihr zu fliehen. Was das alles bedeutet, kann ich nicht sagen, aber ich bin mir sicher, dass Adrienne Rich mich und mein beginnendes Hinterfragen zufrieden beobachten würde. Es ist ein Anfang.


Nachwort

Meine Empfehlung an alle, die sich wie ich schlaflose Nächte und permanentes Hinterfragen des eigenen Verhaltens einfangen wollen, ist es, den Essay „Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence“ und das beigefügte Masterdoc zu lesen.

Essay: http://users.uoa.gr/~cdokou/RichCompulsoryHeterosexuality.pdf

Masterdoc: Compulsory Heterosexuality

Weitere Quellen

https://www.theguardian.com/film/2020/feb/28/its-about-time-film-began-representing-the-lesbian-gaze-portrait-of-a-lady-on-fire

https://undividedforkuleuven.com/2020/12/16/compulsory-heterosexuality-for-women-questioning-their-sexuality/

http://www.actforlibraries.org/sexual-repression-of-women-in-patriarchial-societies/

https://equalityarchive.com/issues/compulsory-heterosexuality/

https://feminisminindia.com/2020/11/16/lesbian-relationships-male-gaze-cinema-pop-culture/

Fußnoten

[1] „Until we know the assumptions in which we are drenched, we cannot know ourselves.“ (https://beruhmte-zitate.de/autoren/adrienne-rich/)