Ich sitze auf dem Balkon meines Kinderzimmers und blicke auf unseren kleinen Garten. Endlich darf ich ein bisschen durchatmen, hier zu Hause am Bodensee. Die Zeit am See, auf dem Land, ist besonders: plötzlich wieder die Feldwege und Ufer, der kleine Dorfladen um die Ecke, die alten Gesichter. Hier gehe ich gerne alleine auf Spaziergänge, durchforste den Wald, schaue über das Blau des Sees hinweg, der sich in die Ferne erstreckt. Die Aussicht ist so schön.
Manchmal, wenn ich zu Hause bin, möchte ich einfach auf meinem Balkon sitzen bleiben. Ich höre gerne den Vögeln zu, wie sie zwitschern. Dann habe ich Zeit, einen Roman in die Hand zu nehmen, ein bisschen durch Magazine und Zeitungen zu stöbern, vielleicht in einen Podcast reinzuhören. So tauche ich ein in eine Welt von queeren Liebes- und Lebensgeschichten: von Jude und Willam, die sich in New York City lieben lernen, von Clément G., der über seine Karriere als schwuler Escort in Paris erzählt, von Meinungsbeiträgen zum queeren Dating oder Single-sein. Diese queere Welt ist fernab von meinem Dorf.
Früher dachte ich oft, ich sei die einzige queere Person, die jemals in meinem Dorf existiert hat. Manchmal fühle ich mich heute immer noch so. Mit den Jahren beobachtete ich, wie aus Winter Frühling, Frühling Sommer, Sommer Herbst, und Herbst Winter wurde, aber ein queeres Paar sah ich nie. Die Männer hier arbeiten meist im Handwerk oder in den Naturwissenschaften, tragen graue Jeans und alte Hemden. Kleine Jungs und Mädchen spielen zusammen Fußball und rennen über Stock und Stein, bis sie es irgendwann nicht mehr tun. Dann gehen die Jungs zum Training, und die Mädchen lernen sich zu schminken. Die kleine Bibliothek—ich schätze sie—bietet viele nette Schmöker an, aber queere Literatur findet sich dort nicht. Regenbogenflaggen werden hier nirgends gehisst, Pronomen tauchen einmal im Deutschunterricht auf und dann nie wieder. Die Aussicht auf ein glückliches und offenes Leben als schwuler Mann auf dem Land blieb mir lange verwehrt.
So rief mich die Stadt. „Auf“, dachte ich mir oft nachts, wenn mir das Leben wieder einmal so schwer vorkam, „noch ein paar Jahre, und dann ziehst du weg, in die große, weite Welt, in eine große Stadt, in der dich keiner kennt, in der du endlich du selbst sein kannst“. Und eines Tages zog ich fort. Mit dem Abitur in der Hand und der Pandemie zum Trotz machte ich mich auf nach Paris. Paris Paris Paris. Der Ort, der das Leben und Werk queerer Ikonen maßgeblich prägte, wie das von Gertrude Stein und Alice Toklas, Simon de Beauvoir, Collette oder James Baldwin. Wo es queere Nachbarschaften gibt und Straßen, die nach queeren Menschen benannt sind. Wo es queere Buchläden und Jugendorganisationen gibt und Ausstellungen zu queerer Kunst und Geschichte. Wo man endlich queere Menschen in den Straßen sieht, gequeerte Kleidung, queere Paare und Familien.
Aber das queere Leben in der Stadt verläuft nicht reibungslos. Viele Herausforderungen wurden mir erst bewusst, als ich alleine in Paris angekommen war: wie findet man dann eigentlich konkret queere Freund*innen in der Stadt? Womöglich durch Apps wie Bumble, die einem Freund*innen und Dates versprechen? Und was bedeutet es wirklich, in queere Bars und Clubs zu gehen? Mit wem? Und wann? Und wo? Die bekannten queeren Bars und Clubs sind oft teuer, gefüllt mit weißen Männern Mitte 20 und älter, und während der Höhen der Pandemie ohnehin geschlossen. Und wie viel Zeit hat man im Alltag wirklich, immer wieder neue queere Ausstellungen zu finden und zu besuchen? Viele dieser Fragen lösen sich mit der Zeit, wenn man langsam tiefere Beziehungen mit den Orten und Menschen der Stadt entwickelt. Und das braucht viel Geduld, oft Jahre. Gerade in Paris formen Jugendliche über viele Jahre ihre Freundschaften, Cliquen und Beziehung zur Stadt, fortlaufend durch Schule und Universität. Dort innerhalb eines Jahres einzusteigen ist in meiner Erfahrung entweder Glückssache, oder Illusion.
Die Stadt als queerer Lebensraum kann großartig sein, und dennoch zögere ich, sie zu romantisieren. Ich betrachtete die Stadt lange als Gegenpol zum Dorf und dachte viel in Kontrasten: die Stadt queerfreundlich, das Dorf queerfeindlich. Die Stadt abenteuerlich, das Dorf verschlafen. Die Stadt jung, das Dorf alt. Die Stadt befreiend, das Dorf einschränkend. Inzwischen ist mein Verhältnis zur Stadt und zum Dorf nicht mehr so eindeutig. Ich lerne immer mehr über Formen von queerem Leben auf dem Land, die ich davor übersehen oder ignoriert habe. Ich bemerke Jugendliche auf dem Dorf, die Regenbogenbuttons an ihren Rucksack stecken, die Aspekte queerer Mode aufgreifen, wie den Eyebrow Cut, Undercuts für Mädchen oder Ringe für Jungs. Ich bemerke Jugendliche, die über queere Serien oder Bücher sprechen, vielleicht sogar queere Jugendgruppen oder AGs mitgestalten. Das sind mutige und wichtige Formen von queerem Leben, die dazu beitragen, das Dorf mehr und mehr sichtbar als lebenswerten Raum für queere Menschen zu gestalten.
Ich interessiere mich auch mehr und mehr für die queere Geschichte meines Dorfes. In der Jahrhunderte alten Geschichte meines Dorfes muss es unzählige queere Bewohner*innen gegeben haben—wenn auch zumeist im Geheimen. Wie haben diese Menschen gelebt und geliebt? Gab es Orte, an denen sich heimlich zwei Frauen oder zwei Männer, oder auch mehrere, getroffen haben? Wie sind nicht-binäre und trans* Menschen mit ihrer Identität in diesem Raum umgegangen? Haben sie ihre Identität im Öffentlichen und im Privaten anders gelebt? Wie haben queere Menschen die Politik und das Gemeinschaftsleben dieses Ortes geprägt? Auf viele meiner Fragen finden sich so leicht keine Antworten. Oftmals sind die Geschichten unserer Dörfer nur schwer einzusehen, ganz zu Schweigen die queere Geschichten. Viele queere Geschichten wurden nicht archiviert, sind verloren gegangen. Und dennoch lohnt sich der Versuch, diese Fragen mitzudenken, ihnen auf die Spur zu gehen, und unser Queersein in die Geschichte unseres ländlichen Raumes einzuordnen. Auch lohnt es sich zu fragen, wie wir künftig Archive queeren, ländlichen Lebens erstellen können. Der Versuch, queere Geschichte zu bewahren und zu überliefern, ist für mich eine besondere Form der Wahrnehmung und Wertschätzung queeren Lebens auf dem Land.
Manchmal sitze ich also auf meinem Balkon und genieße die Aussicht. Manchmal ziehe mich gedanklich zurück in die Stadt. Manchmal brauche ich das. Einfach ist es schließlich nicht, plötzlich wieder zu Hause auf dem Land zu sein, wo mir das offene Queersein oft noch schwerfällt. Aber hier gibt es noch viel zu entdecken an queerem Leben, queerem Lieben und queerer Resistenz. Die Stadt, das Dorf, mein Zuhause, meine Heimat und Ich, es ist schwierig, das alles so deutlich zu ordnen.
Ich bin auch noch so jung.